Angesichts der Auswüchse der industriellen Fleischproduktion und eines weiter wachsenden Heimtiermarktes (mit Gourmetprodukten und Luxus-Dienstleistungen) spricht Lintner von großen Diskrepanzen: "Einerseits wissen wir mehr über Tiere, sie werden auch wichtiger und haben im Leben Vieler eine soziale Funktion, aber noch sehr viel mehr Tiere, Millionen Nutztiere, fallen zugleich aus unserem Blickfeld heraus."
Vieles wird laut Lintner ausgeblendet, Tiertransporte über Tausende Kilometer, zum Teil qualvolle Methoden der Schlachtung bis zu den Bedingungen in der Massentierhaltung. So kann ein schlechtes Gewissen gar nicht erst aufkommen."Wenn wir Tag für Tag sehen würden, wie sie gehalten werden, würden wir es sicher nicht gutheißen oder gänzlich abgestumpft werden."
Martin Lintner
Die gespaltene Gesellschaft
Auch der an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität lehrende Sozialethiker Markus Vogt sieht beim Umgang mit Tieren eine gespaltene Gesellschaft. Viele erfahren eine emotionale Annäherung an Tiere ("animal turn"), andererseits gibt es eine noch nie dagewesene Instrumentalisierung von Tieren. Das passe nicht zusammen, sagt Vogt; Ethiker könnten auf diesen Widerspruch hinweisen. Sie sollten zugleich versuchen, mit Ausmaß Lösungen zu finden die "unter den jetzigen Bedingungen in die richtige Richtung weisen". Tierschutz sei eine sehr komplexe Herausforderung mit vielen Akteuren, betont Vogt. Es müsse versucht werden, alle mitzunehmen, Produzenten, Konsumenten, Einzelhandel. Tierethik sei eine Transformations-Ethik.Vogt: "Alle sind gefordert"
Auf die Frage, wer also beginnen sollte, etwas an unwürdigen Bedingungen zu ändern, antwortet Vogt mit einer Erkenntnis der Transformationsforschung: "Man kriegt nur Änderungen, wenn gleichzeitig drei Akteursgruppen anfangen. Das seien erstens die Konsumenten mit ihrer Nachfrage, zweitens die Produzenten, sowohl Landwirtschaft und Lebensmittel-Industrie, und drittens die Politik mit den Rahmenbedingungen.Der erste Schritt?
"Genau hinsehen", betont der Sozialethiker. Dadurch unterscheide sich die Ethik auch vom Moralisieren. Genau hinsehen bedeutet laut Vogt zugleich Schluss mit dem Verdrängen. Er plädiert für eine Ethik mit Augenmaß, für nüchternes Abwägen. Das sei besser als hochgehängte Ideale und eine Praxis, die nicht dazu passt.(on)
Rai Tagesschau