Demokratie

​"Das Volk denkt nicht mehrheitlich populistisch"

Nein, die Direkte Demokratie befeuere nicht den Populismus, sagt der Schweizer Politikwissenschaftler Longchamp. Ein Interview.

​"Das Volk denkt nicht mehrheitlich populistisch"
Foto by Bhuwan Dhingra/Pexels
Die Initiative für mehr Demokratie feiert heute ein Jubiläum. 25 Jahre Einsatz für mehr Bürgerbeteiligung. Doch in Zeiten des grassierenden Populismus und von Social Media sieht sich die Direkte Demokratie auch mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sei besonders anfällig für Populismus. Claude Longchamp widerspricht hier vehement. Der Schweizer Politikwissenschaftler sagt: Bindet die Populisten ein - und sie mäßigen sich. Longchamp ist heute Festredner beim Festakt zu 25 Jahren Initiative für direkte Demokratie an der Uni Bozen.

Populisten, Europa-Skeptiker, Parteien von links und rechts außen feiern in vielen Ländern Erfolge. Ist unsere Demokratie von Populisten bedroht?
Claude Longchamp, Schweizer Politikwissenschaftler: Ich bin immer etwas erstaunt, dass wir uns in der Schweiz mit unseren vielen Volksabstimmungen immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, die direkte Demokratie sei schuld am Erstarken des Populismus. Wenn ich mir die halbe Welt aber ansehe, dann stelle ich fest, dass die populistischen Bewegungen mindestens seit 2008 gerade in repräsentativen Demokratien Aufschwung erhalten haben. Letztlich mit einem Argument: Die Distanz zwischen Politik und Bevölkerung sei zu groß. Die Bevölkerung habe viel zu wenig, die Politik viel zu viel zu sagen. Und genau das ist eben typisch für die repräsentative Demokratie.

Die Populisten nehmen für sich in Anspruch, die wahre Stimme des Volkes zu sein.
Das ist eine rhetorische Formel und viel weniger eine Praxis. Schauen Sie sich Marine Le Pen an: Sie hat diese Form geprägt. Sie wollte sogar aus der Opposition heraus über den Euro abstimmen lassen. Doch kaum war der Wahlkampf über die Präsidentschaft in Frankreich vorbei, sagte sie ganz kleinlaut, sie wolle sich das noch einmal überlegen, ob man nun wirklich abstimmen sollte. Denn sie hatte natürlich auch gemerkt: Die Volksabstimmungen in der direkten Demokratie haben eine bindende Wirkung. Und wenn man dann nicht gewinnt, und das ist gut möglich, dass die Populisten nicht immer gewinnen, dann hat man total verloren. Man hat in der Sache verloren, vor allem aber auch in dieser rhetorischen Formel - dass man das Volk kenne. Das ist in Österreich mit dem Raucher-Referendum nicht anderes gewesen.

Aber solche rhetorische Formeln sind vielleicht gerade in Zeiten von Social Media, von ungefilterter, freier, kostenlos zugänglicher Information, problematischer geworden.
Die wichtigsten Populisten, die es heute gibt, sind nicht über Volksabstimmungen an die Macht gekommen. Alle tatkräftigen Populisten und Autokraten, in Ungarn, in den USA, in Polen sind über Wahlen an die Macht gekommen und kaum waren sie an der Macht, haben sie versucht, die Grundsätze der liberalen Demokratie mit Grund- und Menschenrechten einzuschränken versucht, damit sie möglichst uneingeschränkt regieren können.

Kann die direkte Demokratie Gegenmittel zu populistischen Verhaltensweisen sein?
Auch wir in der Schweiz haben Probleme mit populistischer Rhetorik, bei Abstimmungen und in Wahlkämpfen. Nur haben wir eine andere Kultur entwickelt: die Kultur der Integration der Populisten. So lange die Populisten nicht die Mehrheit in der Regierung haben, so lange werden sie eingebunden.  Das führt in der Regel dazu, dass sie gemäßigter sind und genau wissen, dass sie sich nicht nur auf rhetorische Formeln ausruhen können. Und ich glaube eben nicht, dass das Volk mehrheitlich populistisch denkt. 

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden, damit direkte Demokratie funktioniert?
Blickt man in die Schweiz, kann man zwei Bedingungen definieren. 

Erstens: keine Plebiszite, sondern nur Volksrechte. Das heißt: Regierungen können das Instrument nicht einsetzen und unterdrücken, je nachdem wie's ihnen passt. Denn dann besteht die Gefahr, dass die Regierungen die Mitsprache des Volkes zu ihren Zwecken einsetzen. Das Volk kann entscheiden, wenn es die nötigen Unterschriften sammelt. Der Brexit war, aus Schweizer Sicht, ein typisches Beispiel für ein Plebiszit. Die Regierung von Cameron glaubte, dass sich sicher niemand für den Austritt aussprechen würde - und dann kam alles umgekehrt. 

Zweitens: Die Medien dürfen den Populisten nicht Platz bieten. Click-Baiting ist digitaler Populismus. Es ist wichtig, dass die Medien auf der Basis der Demokratie stehen und nicht auf der Basis des Populismus.

Interview: Otwin Nothdurfter

Der Schweizer Politikwissenschaftler Claude Longchamp war Gast im Morgengespräch im Hörfunk von Rai Südtirol am 25. Oktober 2019. Sie können sich dieses Morgengespräch - sowie alle anderen dieser Woche - hier anhören.