Pandemie

Professor Crisanti: "Südtirol hätte früher eingreifen müssen"

Ausgerechnet ein vermeintliches Mitglied der Südtiroler Expertenkommission kritisiert die Landesregierung. Und: Er selbst sei schon länger nicht mehr einbezogen worden, sagt Professor Andrea Crisanti In einem Interview mit dem "Corriere del Veneto".

Professor Crisanti: "Südtirol hätte früher eingreifen müssen"
Rai
Richtigstellung von LR Widmann:
Andrea Crisanti sollte als Mitglied der COVID-19 Expertenkommission ernannt werden, lehnte den Auftrag am 8. Juni 2020 aber schriftlich ab.

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Der 66-jährige gebürtige Römer Andrea Crisanti ist nicht irgendwer. Crisanti war Professor für Mikrobiologie am renommierten Imperial College (Oxford University) in London. Inzwischen lehrt Crisanti an der Universität Padova. Er erhielt mehrere Auszeichnungen für seine Einsätze und Expertisen in der Corona-Pandemie. Die Staatsanwaltschaft von Bergamo hat Crisanti bei den Ermittlungen zu den vielen Corona-Toten zu Rate gezogen. Und: Andrea Crisanti ist seit 8. Juni auch Mitglied der Südtiroler Corona-Expertenkommission.

Glaubt man seinen Aussagen, ist er seit längerem von der Südtiroler Landesregierung nicht mehr um seine Meinung gefragt worden. Das zumindest behauptet der renommierte Professor in einem am 31. Oktober erschienenen Interview mit dem "Corriere del Veneto". 

Crisanti: "Früher handeln"

Südtirol habe seine Autonomie-Karte nicht gut genug eingesetzt, sagt Crisanti. "Südtirol hätte schon viel früher restriktivere Maßnahmen ergreifen müssen, dies jedoch nicht getan", sagt Crisanti. "Landeshauptmann Kompatscher hat mich zuletzt nicht mehr um meine Meinung gefragt", präzisiert der 66-jährige Experte. Nachfolgend ein Auszug der wichtigsten Passagen des Interviews.

Herr Professor, wieso riskiert Südtirol einen neuerlichen Lockdown?
Die Positivitätsrate bei den Abstrichen ist außerordentlich hoch. Für diese alarmierenden Daten braucht man kein Experte sein. Hätte man früher eingegriffen, wäre der Lockdown jetzt nicht so zwingend. Die Autonomie hätte Südtirol genügend Spielraum gelassen. Man hat letztlich anders entschieden. 

Wieso ist die Reproduktionszahl in Südtirol so hoch?
Wahrscheinlich, weil keine Maßnahmen getroffen wurden, um das contact tracing zu verstärken. Das wäre notwendig gewesen, als die Neuinfektionen noch auf einem wesentlich niedrigeren Niveau waren. Deutschland hat die drohende Gefahr viel früher erkannt und entsprechende Maßnahmen beschlossen.

Welche Daten muss man besonders im Auge behalten, um zu verstehen, ob sich die Situation verschlechtert?
Mehr als die Zahl der Neuinfektionen muss man auf das Verhältnis zwischen durchgeführten Tests und der Zahl der positiv Getesteten schauen. Das ist der wahre Indikator. Und Südtirol scheint mir da gemeinsam mit Umbrien die schlechteste Positivitätsrate zu haben.

Die Zahl der Notdekrete der Regierung in Rom und der Verordnungen der Regionen nehmen zu. Läuft man da nicht Gefahr, die Menschen zu verunsichern?
Zumindest trägt es nicht dazu bei, die Verunsicherung zu verringern. Die Verantwortung zwischen den verschiedenen Ebenen müssten besser geklärt werden, da darf es keinen Kompetenzstreit geben.

Derzeit steigt die Angst um die Skisaison, die ja für den Wintertourismus entscheidend ist. Kann die Saison gerettet werden?
Wird Mitte November ein Lockdown ausgerufen, kann ich mir nur schwer vorstellen, dass dieser weniger als sechs Wochen dauert, um die gewünschten Effekte zu erreichen. Die Politik müsste den Mut aufbringen, dies den Wirtschaftstreibenden mitzuteilen. 

Können Sie uns sagen, wann wir zur Normalität zurückkehren können?
Eine Vorhersage ist nicht möglich. Ich war der Erste, der gesagt hat, ein Lockdown zu Weihnachten sei wohl unausweichlich. Jetzt werde ich mir bewusst, dass ich wohl zu optimistisch war.

mk