Krieg in der Ukraine

Soziologe Knaus warnt vor Krieg auf dem Westbalkan

Moskau habe Interesse, Spannungen auf dem Westbalkan anzufachen, sagt der Soziologe Gerald Knaus - und warnt vor "dramatischen Problemen".

Soziologe Knaus warnt vor Krieg auf dem Westbalkan
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Auch wenn der Krieg in der Ukraine derzeit alle Aufmerksamkeit Europas fordert, dürfe die EU gerade jetzt den Westbalkan nicht aus den Augen verlieren. Moskau habe nämlich "jedes Interesse, Spannungen im Hinterhof Europas, auf dem Balkan, anzufachen", warnt der Soziologe und Migrationsforscher Gerald Knaus im APA-Interview vor "dramatischen Problemen" in der Region. Die Stimmung sei bereits jetzt gefährlich.

"Krieg in den Westbalkanstaaten ist wieder denkbar geworden."
Gerald Knaus, Soziologe und Migrationsforscher 


Zwar bedeute das Aufrüsten einiger Westbalkanländer, die immer stärker werdende Rhetorik der Feindschaft und das Infragestellen von Grenzen oder Institutionen wie etwa in Bosnien noch nicht, dass es auch tatsächlich einen offenen Konflikt geben werde. "Aber es heißt, dass die Leute Angst haben. Und wenn es dann von außen Provokationen gibt, dann können solche Situationen außer Kontrolle geraten - und das kann schnell gehen", erklärt Knaus.

Krieg in den Westbalkanstaaten sei wieder "denkbar" geworden. Denn infolge der EU-Waffenlieferungen an Kiew und der Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland suche Präsident Wladimir Putin jetzt nach Möglichkeiten, "zurückzuschlagen - und auf dem Balkan hätte er dazu die Gelegenheit", so Knaus.

Knaus: EU muss Balkan schnell konkrete EU-Perspektive bieten

Gefahr sieht der Gründer des in Berlin ansässigen ThinkTanks "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI) dann, "wenn die EU nicht pro-aktiv endlich von ihrer denkfaulen, von Phrasen beherrschten Politik, in der ununterbrochen die gleichen Floskeln wiederholt werden, die kein Mensch mehr glaubt, abrückt". Diese "absurde und gefährliche Trägheit" - einfach zu hoffen, dass nichts passiert, ohne aktiv etwas zu tun, sei " verantwortungslos", kritisiert der Österreicher. In der Ukraine habe man zu spät reagiert. Dem Balkan müsse die Union müsse nun schnell eine "klare" und konkrete EU-Perspektive bieten.

Zumindest in Sachen Migrationspolitik zeige sich im Zuge des Ukraine-Kriegs, dass die Union in den vergangenen Jahren durchaus auch aus Fehlern gelernt habe. Der Versuch der "Überregulierung und die absurde Debatte über Fairness und Verteilung" habe nie geklappt und werde deshalb auch jetzt gar nicht erst geführt. Zudem reagiere man "schneller und effektiver" als in der Vergangenheit.

In der Ukraine "größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg"

Der große Unterschied zu vorherhegenden Fluchtbewegungen, der die einheitliche Reaktion der EU aber auch ein Stück einfacher mache, sei die Entscheidung zur Visafreiheit für Ukrainer im Jahr 2017 gewesen. So habe man jetzt erst gar nicht entscheiden müssen, ob man irreguläre Migration akzeptiert oder nicht. Auch helfe die geografische Nähe zur Ukraine der Bevölkerung, sich mit den Flüchtenden zu identifizieren. Man habe jetzt "gar keine andere Wahl - moralisch und politisch, als zu helfen. Und wenn dieser Konsens mal da ist, kann man leichter eine europäische Lösung finden. Wo kein Konsens ist, wird es auch weiterhin keine europäische Lösung geben", meint der Migrationsforscher, der etliche Regierungen berät. Er glaubt deshalb auch nicht, dass die aktuelle Situation die Migrationsdebatte in Europa grundsätzlich verändern wird.

Fest stehe aber schon jetzt, dass "die Fluchtbewegung, die wir jetzt sehen, von der Zahl her historisch und einzigartig sein wird". Knaus rechnet mit der größten Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Schon jetzt seien in einer Woche so viele Menschen aus der Ukraine geflohen wie im ganzen Jahr 2015 nach Griechenland gekommen sind.

Apa/hp