Gletscherbruch an der Marmolata

Südtiroler Notarzt: "Wir konnten die Toten vom Hubschrauber aus erkennen"

Bislang sieben Todesopfer +++ Eurac fordert Maßnahmen gegen den Klimawandel und ein Umdenken im Risikomanagement +++

Südtiroler Notarzt: "Wir konnten die Toten vom Hubschrauber aus erkennen"
Heli Flugrettung
Am Tag nach dem Gletscherbruch wird das Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Sechs Todesopfer wurden bislang bestätigt. Vier Todesopfer konnten identifiziert werden. Es sind drei italienische und ein tschechischer Staatsbürger. Die drei Italiener kamen aus Venetien. 
Die Angaben zur Anzahl der Vermissten schwankten heute Vormittag stark. Es war von 17 Personen die Rede, dann sogar von 30, die sich gestern zum Zeitpunkt des Gletscherbruchs auf der Marmolata befanden. Drei zunächst als vermisst gemeldete Personen haben sich mittlerweile bei den Behörden gemeldet. Derzeit wird von 16 Vermissten ausgegangen. Unter den Vermissten befindet sich eine Gruppe von drei Bergsteigern aus Vicenza mit einem Führer. 
Zehn Personen gelten derzeit als verletzt, zwei von ihnen schwer. Sie kommen aus Deutschland und werden in der Intensivstation in Belluno behandelt. 
Auch in Südtirol leiden die Gletscher flächendeckend unter den hohen Temperaturen und den Folgen des schneearmen Winters. Extremereignisse wie an der Marmolata könne man deshalb nirgends ausschließen, sagt der Chef der Bergrettung Sulden Olaf Reinstadler. Gefahr gehe vor allem von Gletscherbrüchen in steilem Gelände aus. Mehr dazu lesen Sie hier.
Derzeit kann an der Marmolata wegen Regens vorerst nicht weitergesucht werden. Die Retter wurden vom Gletscher ins Tal geflogen. Auch die Drohnen bleiben am Boden. 
In Canazei wurde ein Lagezentrum eingerichtet. Ministerpräsident Mario Draghi wird zur Stunde dort erwartet. Der Präsident der Region Venetien Luca Zaia traf am Vormittag ein. 
Die Zahl der Todesopfer an der Marmolata steigt. Die Nachrichtenagentur Ansa schreibt von einem siebten Opfer, das leblos geboren wurde. 

 
Wegen des Schlechtwetters verzögert sich die Ankunft von Ministerpräsident Mario Draghi in Canazei. Draghi muss mit dem Auto vom Flughafen Verona in das Lagezentrum gebracht werden. 
Die Bergrettung zeigt nach wie vor zuversichtlich, die Suche nach den Vermissten heute noch fortzusetzen. Die Situation am Berg sei allerdings äußerst gefährlich. Schon seit zwei bis drei Monaten sei die Lage an der Marmolata außergewöhnlich. Die gestrigen Höchstemperaturen von mehr als 10 Grad am Gipfel hätten nicht den Ausschlag gegeben, hieß es.
Der Papst ruft auf Twitter zu einem Gebet für die Opfer an der Marmolata und deren Familien auf. Der Papst verweist dabei auf die Erderwärmung. Man müsse dringend neue Wege suchen. 
Die Staatsanwaltschaft von Trient hat Ermittlungen aufgenommen. Es soll ermittelt werden, ob jemand die Katastrophe fahrlässig ausgelöst hat. Der Staatsanwalt von Trient Sandro Raimondi spricht von einem "atto dovuto", von einer Pflicht. Laut Raimondi wird die Identifizierung der Todesopfer nicht einfach, dazu brauche es eine Überprüfung der DNA. 
 
Der aktuelle Stand nach dem Gletscherbruch an der Marmolata: Die Zahl der Todesopfer steigt auf sieben. Vier davon sind identifiziert. Die Zahl der Vermissten sinkt auf 15. Vier zunächst Vermisste meldeten sich offenbar im Laufe dieses Tages bei den Behörden. Die Angaben zu den Verletzten schwanken. Die Rede ist von acht bis zehn. Hinweise auf Opfer aus Südtirol gibt es derzeit nicht.
Staatspräsident Sergio Mattarella hat heute Vormittag mit dem Trentiner Landeshauptmann Maurzio Fugatti und dem Präsidenten der Region Venetien Luca Zaia telefoniert. Darin drückte Mattarella seine Solidarität mit den Angehörigen der Opfer aus. Die Marmolata befindet sich an der Grenze der Provinzen Trient und Belluno (Venetien).
Der ehemalige deutsche Minister für Umwelt, Jürgen Trittin, reagiert auf Twitter auf die Katastrophe. Er schrieb dazu: "Die Klimakrise ist sehr real." Trittin war von 1998 bis 2005 Bundesminister für Umwelt und Naturschutz und mehrere Jahre Vorsitzender der deutschen Grünen. 
Die Umweltschutzorganisation WWF Italien bezeichnet den Gletscherbruch an der Marmolata als "angekündigte Tragödie". Das mache die Katastrophe besonders schmerzhaft. Das Ereignis entspreche den Prognosen der Wissenschaftler. Es fehle an Maßnahmen dagegen. 
Mit einigen Stunden Verspätung ist Ministerpräsident Mario Draghi in Canazei eingetroffen. Ursprünglich sollte Draghi am frühen Nachmittag mit einem Helikopter in Canazei landen, wegen des Schlechtwetters musste der Helikopter woanders landen und Draghi musste per Auto anreisen. 
Ministerpräsident Draghi spricht im Lagezentrum: "Es war mir sehr wichtig, zu kommen, und mich aus erster Hand über die Suche nach den Vermissten zu informieren. Mir war es ein Anliegen, auch Angehörige der Toten zu sprechen und mit ihnen das Leid zu teilen."

"Eine derartige Tragödie war nicht vorhersehbar, aber sie hängt sicher mit dem Klimawandel und dem Rückgang der Gletscher zusammen.  Wir müssen uns nun in der Regierung Maßnahmen überlegen, wie wir mit solchen Situationen umgehen können."
Ministerpräsident Mario Draghi

Der Präsident der Region Venetien Luca Zaia ergänzt: "Ich hätte nicht gedacht, dass ich eine solche Katastrophe erleben muss."
Noch einmal gibt es eine Aktualisierung der Zahlen: Offiziell sind nun sieben Todesopfer zu beklagen, drei wurden identifiziert. Es gibt acht Verletzte, davon zwei noch in Lebensgefahr. 14 Personen sind offiziell als vermisst erklärt, davon vier Tschechen und ein Österreicher.
Unser Reporter vor Ort, Hannes Senfter, meldet: Die Drohnen fliegen wieder. Seinen Bericht gibt's heute Abend in der "Tagesschau", 20 Uhr, Rai Südtirol.
In Südtirol bestätigen derweil weiter Experten den schlechten Zustand der hiesigen Gletscher. "Sie schrumpfen jedes Jahr um rund 30 Meter", sagt Roberto Dinale vom Amt für Hydrologie und Stauanlagen. "Seit 2005 haben unsere Gletscher ein Fünftel ihrer Oberfläche verloren."
Laut dem Südtiroler Forschungszentrum Eurac braucht es dringend Maßnahmen gegen den Klimawandel. "An diesem traurigen Tag wird deutlich, dass die Menschheit mit konkreten Maßnahmen auf den Klimawandel reagieren muss. Dasselbe gilt für das Risikomanagement, das ebenfalls zu überdenken ist", schreibt die Eurac auf Facebook. Sie verweist auf Aussagen ihres Klimafolgenforschers Marc Zebisch. Bei der Berechnung des Risikos einer Naturgefahr ging man bislang immer von Ereignissen in der Vergangenheit aus, so Zebisch. "Mit dem Klimawandel funktioniert das nicht mehr, Hochwasserereignisse werden intensiver, man kann Naturgefahren nicht mehr mit einer stabilen Statistik behandeln."
Bei der Suche wurden heute immer wieder einzelne Gliedmaßen gefunden. Das bestätigte die Bergrettung. Die Körperteile werden nun analysiert und zugeordnet.
TGR Trento berichtet von einem weiteren Eisbruch an der Marmolata. Die Stelle befinde sich unmittelbar neben der ursprünglichen Abbruchstelle.
Nach offiziellen Angaben werden noch immer 13 Menschen vermisst. Fünf zunächst Vermisste meldeten sich inzwischen. Die weiterhin vermissten italienischen Staatsbürger sind aus dem Trentino und aus Venetien, die anderen sind aus Tschechien. Nach einer Unterbrechung wegen Regen suchten die Einsatzkräfte den Unglücksort weiter mit Drohnen ab. Ein Hubschrauber der Finanzwache versucht, Mobiltelefone zu orten. 
An der Marmolata stehen auch Südtiroler im Einsatz, darunter das Team des Notarzthubschraubers. Mit an Bord war dort der Notarzt Jürgen Seeber. "Die Lage beim Eintreffen war katastrophal", sagt Seeber im Studiogespräch mit der "Tagesschau" auf Rai Südtirol. "Beim Überfliegen konnten wir bereits Tote aus dem Hubschrauber erkennen." Seeber sagte, als Arzt sei man ständig mit dem Tod konfrontiert, doch nicht in diesem Ausmaß. Es werde eine Zeit lang dauern, bis auch die Retter des Geschehene und Gesehene verarbeiten.